Veränderung.
Das ist so eine Sache. Seit ein paar Wochen wieder eingeschlossen in das Familienleben, suche ich fast verzweifelt nach Veränderungen. Es ist alles so frustrierend normal. Ich weiss doch, dass ich mich verändert habe. Ich fühlte mich anders am UWC. Irgendwie erwachsener. Ich war unabhängig. Habe meine eigenen Entscheidungen getroffen. Und jetzt? Bin ich wieder kleine Tochter Selina? Ich bin ein Luftballon ohne Luft. Ohne grosse Verantwortungen. Ohne die Energie, die davon kommt. Ich bin einfach. Einfach so im Moment.
2 Jahre weg sind nicht viel im Vergleich zu den fast 17 Jahren, die ich zu Hause bei meiner Familie lebte. Und doch gibt es Veränderungen. Sie sind nicht grossartig, revolutionär oder gar inkompatibel mit einem Familienleben. Es sind kleinen Dinge, versteckt im Alltagsleben.
Wenn meine Eltern mich fragend für die Übersetzung eines englischen Wortes anschauen. Wenn ich während dem Blogschreiben Google translate öffnen muss, um englische Worte in kurzfristig vergessenes Deutsch zu übersetzen. Dass ich Dänemark und Kanada auf meine Postkarten schreiben anstatt Schweiz. Das reflexartige Zusammenziehen meiner Augenbrauen wenn irgendjemand in meiner Nähe unbewusst (oder absichtlich) eine microrassistische Bemerkung fallen lässt. Wenn mein Blick ein Weilchen länger im dunkelblauen Himmel verweilt als früher. Meine spontane Offenheit gegenüber Fremden. Wenn Diskussionen mit meinen Eltern in einer Stille enden, die nicht mehr das komplette Einverständnis beider Seiten trägt.
Veränderungen. Es sind die noch unsichtbaren Samen, Ideen und Ideale, die auf nahrhaften Boden gefallen sind, deren Früchte ich aber erst später ernten werde. Allem voran Nachhaltigkeit. Die Idee von Nachhaltigkeit im Essen, der Gesundheit, Bildung, Gemeinschaft, Wohnen und Reisen. Eine Idee, die wächst und sich in den nächsten Jahren durch verschiedene kleine und grosse Umsetzungen entfalten wird.
Es sind die Dinge, die ich gelernt habe oder angefangen zu lernen. Schlummernde Veränderungen, stark in ihrer hintergründigen Präsenz. Umgeben von psychischen Krankheit zu leben, zu helfen und mich gleichzeitig abzugrenzen. Unter viel akademischem Stress zu funktionieren. Eine Balance zwischen social time und alone time zu finden. Mit anderen Menschen pausenlos auf engstem Raum zu leben. Konflikte anzusprechen. Und loszulassen. Menschen loslassen, vermeintliche Sicherheiten loslassen und Orte loslassen. Gehen lassen. Und sich neu orientieren. Bei mir selbst bleiben.
Wenn ich an den Moment zurück denke, als ich erfahren habe, dass mir ein Platz am UWC USA angeboten wurde, war meine Vorstellung davon nicht viel mehr als das Bild im Internet von einem roten Schloss mit wehenden Flaggen vor dem Eingang, umgeben von bewaldeten Hügeln irgendwo im nirgendwo. So falsch lag ich nicht. Doch nicht in meinen verrücktesten Träumen hätte ich mir vorstellen können, was mich auf diesem kleinen Campus in Montezuma erwartete.
Für zwei Jahre fest integriert in einer kleinen Gemeinschaft von etwa 300 Schülern, Lehrer, Staff und Familien, die sehr isoliert auf engem Raum wohnen, zu leben war eine Herausforderung auf vielen Ebenen. Die Dynamik, die sich entwickelt, ist einzigartig und faszinierend aber auch sehr intensiv. (Ich glaube ich habe schon einmal über diese Metapher geschrieben aber ich werde es noch einmal machen weil nichts anderes es so gut verbildlicht.) Manchmal fühlte es sich an als ob der Campus in einer Schneekugel existierte. Eine Microwelt eingeschlossen in einer Glaskugel, unglaublich faszinierend von aussen anzuschauen. Doch diese kleinen Bubble, die die ausgestrahlte Energie des Aufeinandertreffen von über 70 Nationalitäten, Kulturen, Sprachen und Geschichten von 300 Menschen einschliesst und reflektiert statt entweichen zu lassen, kann sich schnell in einen brodelnden Hexenkessel verwandeln. Es ist eine Suppe der Verwirrungen, Konflikten, überlaufenden Gefühlen und ständiger Veränderung. Mein erstes Jahr war nicht einfach. Es war schwer Wurzeln zu schlagen und Stabilität zu finden. Es war schwer, zu akzeptieren, dass ich mich am Anfang in Englisch nicht so ausdrücken konnte, wie ich es in Deutsch gewohnt war. Es war schwer, mich als introvertiert und still zu akzeptieren und eine Nische zu finden, in der ich mich wohl fühlte. Die Konfrontation mit meinem behütet, beschützt und konstant unterstützt und bestätigt aufgewachsenen Selbst, weit weg von zu Hause und einer Familie, die Geborgenheit und Trost spendet, war unangenehm. Ich war zum ersten Mal ganz auf mich alleine gestellt und es hat ein Weilchen gedauert, bis ich meine Felsen im Sturm gefunden habe. Von Zeit zu Zeit der Schneekugel zu entweichen hat immer geholfen. Als ich die Nachbarn des Campus in Montezuma und ihre Freunde kennengelernt habe, erklärten sich viele davon selbst zu meinen Gastfamilien und es gab immer irgendwo eine offene Tür in Montezuma, Santa Fe oder sogar Albuquerque. Je mehr und weiter ich meine Fühler aus der UWC-Bubble in das unbekannte New Mexico hineinstreckte, desto wohler und ausgeglichener fühlte ich mich zurück auf dem Campus. Auch die Hot Springs, die drei Minuten von der Schule entfernt lagen, waren ein Ort der Erholung und ein Ort, um neue Freundschafen zu knüpfen oder einfach nur eine Nacht lang mit Nicht-UWC-Menschen in eine Diskussion über Aliens oder Träume zu versinken.
Mein allergrösster Felsen im Sturm war jedoch die Wildnis. Ich hatte keine Ahnung von der Magie der Natur dieses Landes. Angefangen mit der ersten drei-tägigen Wanderung geleitet von second years während Orientation, habe ich insgesamt 38 Tage auf verschiedenen backpacking trips in der Wildnis verbracht und dabei etwas gefunden, das mich für mein ganzes Leben begleiten wird.
Vielleicht beschreiben die zwei Zitate von Terry Tempest Williams, die in der Wildnis zu meiner eigenen Philosophie geworden sind, am besten, was ich umgeben von rotem Sandstein, der ungetrübten Milchstrasse und klaren Bergseen gelernt habe:
“At the heart of my emerging voice was the belief that nature held the secret to harmony and unity, not just outside us, but inside us, no separation”.
Und:
“To be numb to the world is another form of suicide”.
Es war nicht auf dem Campus, sondern in einer kleinen Gruppe Schülern, die mit schweren Rucksäcken durch hüfttiefen Schnee stapften oder mit rationiertem Wasser in der erbarmungslosen Hitze der Wüstensonne wanderten, wo ich UWC in seiner kräftigsten und klarsten Form erlebt habe. Meine Ausbildung als “wilderness leader“, hat mir nicht nur alle technischen Fähigkeiten zum Überleben in der Wildnis gegeben, wie Karten lesen, erste Hilfe, kochen und Camp aufbauen, sondern ich habe in langen Diskussionen und Gesprächen während den Wanderungen auch über die Geschichte und Kulturen in den unterschiedlichsten Ecken der Welt gelernt.
Eine Gruppe zu führen ist kein natürliches Talent von mir. Doch die verschiedenen Trips haben mich immer wieder in eine leitende Rolle geworfen, sodass ich gar nicht anders konnte als mich der Herausforderung zu stellen. Ich habe meinen Weg durch das Rätsel das “Leadership“ für mich war gefunden und angefangen die Verantwortung, die ich trug, zu geniessen.
Meine Erfahrung in der Wildnis hat mir unzählige kleine verborgene Türen zu mir selbst aber auch zu einem ganz neuen Verständnis der Welt geöffnet. Abgeschnitten von facebook und befreit vom Stress des IB habe ich die wenigen Menschen in meiner Gruppe auf eine direkte und unverfälschte Art kennengelernt. Ich hatte die Zeit und Energie, einen anderen Menschen wirklich zu verstehen zu versuchen. Dabei haben sich wundervolle Freundschaften entwickelt, über deren Existenz ich auf dem Campus nur eine verzogene Grimasse geschnitten und den Kopf geschüttelt hätte. Die Wildnis hat mich für kurze Zeit zu einer besseren Version von mir selbst werden lassen, zu der ich in der Zivilisation unter vielen Menschen und der unglaublichen Geschwindigkeit des Lebens nur sehr selten Zugang finde.



Abgesehen von den Projektwochen, Exkursionen und Wilderness trips, habe ich natürlich die meiste Zeit auf dem Campus verbracht. Ich glaube wirklich angekommen bin ich erst in meinem zweiten Jahr. Doch jede verzweifelte Träne und jeden Kampf mit mir selbst hat sich gelohnt. Ich habe meine Balance gefunden und Wurzeln geschlagen. Ich blühte auf. Ich schwebte in den Hochs, kämpfte mich mehr oder weniger erfolgreich durch das IB und auch die tiefsten Tiefs waren nicht mehr ganz so schlimm. Kein Alltag aber ein gewisser Rhythmus hat angefangen den Wochen eine Struktur zu geben. Ich hatte ein Auffangnetz für alle möglichen emotionalen Notfälle und Probleme, meine wichtigsten Freunde, meine Familie. Es gab immer noch viele Momente, in denen ich mich nicht wohl fühlte aber ich hatte blindes Vertrauen in die Veränderung und dass sie die Dinge zum Besseren wenden würde.
Klettern, Kunst und Gartenarbeit wurden zu einer Therapie, die alle Frustration in ein Lächeln auflösen konnte und Energie und Motivation zurückgaben.
Der Kunstraum war schon in meinem ersten Jahr mein zweites Zimmer. Ein Ort der Inspiration. Meine Kunstklassen waren eine Reise durch das Land der unlimitierten Fantasie und Kreativität. Genau, was Kunstklassen sein sollten. Wir Kunstschüler wurden freigelassen aus den eingezäunten Bereichen, in denen wir uns in anderen Fächern wie eine Herde Schafe bewegten und die Wiese systematisch abzugrasen hatten. Wisse in uns hineinstopften. Und wieder vergassen. In den Kunstklassen gab es keinen Zaun. Allein oder in kleinen Gruppen mit ähnlichen Interessen zogen wir los und entdeckten die Welt der Farben, Formen, Skulpturen und Materialien. So manche von uns strandeten in scheinbar ausweglosen Ideenlöcher. Andere verloren sich wochenlang im Ozean der Details, kaum imstande wieder aufzutauchen. Wir öffneten uns gegenseitig die Türen zu neuen Techniken und Ideen. Wir inspirierten und kritisierten einander. Wir arbeiteten kollaborativ. Lange war ich auf rastloser Wanderschaft von der einen Technik zur nächsten. Erst in der Hälfte meines zweiten Jahres fand ich einen Ort zum Bleiben. Ich experimentierte mit Tinte und Bleichmittel auf nassem Papier und perfektionierte meine Technik auf dem schmalen Grat zwischen absoluter Kontrolle und Zufall. Daneben entwickelte sich aus einem anderen Zufall eine Faszination für brennende Dinge. Ich und Anna fingen an, zusammen Skulpturen aus Holz und Pinienzapfen zu bauen, die wir in Flammen aufgehen liessen.



Wie der Kunstraum war auch die Schulfarm ein Ort wo Dinge erschaffen wurden, wenn auch in einer ganz anderen Form. Im grossen Gewächshaus, dem “high tunnel“ wuchsen Salat, Tomaten, Kräuter, Spinat, Karotten und vieles mehr für die Küche im Castle. Die Aussenbeete waren gefüllt mit wissenschaftlichen Pflanzenexperimenten von Schülern. Vom ersten bis zum letzten Tag blieb ich der Farm treu, sah wie im Sommer die Sonnenblumen alles überwucherten und Tomaten saftig und schwer von ihren Kletterstängeln hingen, wie im Herbst die Äpfel reif wurden und von vielen fleissigen Händen in literweise frischen Apfelsaft verwandelt wurden, wie im Winter der Spinat Frost und Schnee trotzte und wie im Frühling die ersten warmen Sonnenstrahlen den Boden wärmten und frisches Grün sich durch die Erde kämpfte. Im zweiten Jahr hatte ich mein eigenes Projekt, ein Kräutergraten für einheimische Heilkräuter, für den ich die Struktur plante und die Samen für die Kräuter von umliegenden Gärtnern und Herbalisten zusammensuchte. Die unzähligen Morgenstunden, die ich am Wochenende damit verbrachte Spinnat zu ernten, Erde umzugraben, Karotten anzusähen, Radischen zu essen, im Gras zu liegen und die Sonne zu geniessen, waren mein Heiligtum. Es waren Stunden der Ruhe und Denkerholung. Ich genoss die körperliche Arbeit und spazierte auf den Campus zurück, wenn sich alle andern langsam aus ihren Betten rollten und verschlafen im Pyjama die Treppen zum Castle für ein paar Pancakes und Hashbrowns hochkletterten.


Klettern ist wie eine Krankheit, die ich irgendwie schon lange in mir trug, die aber erst in meinem zweiten Jahr am UWC richtig ausbrechen konnte. Wie aus dem Nichts entstand eine Gruppe Schüler, die kaum zu bremsen waren, angefeuert und unterstützt von Andrew, unserem Klettercoach. Neben der kleinen Indoorkletterwand entdeckten wir eine halbe Stunde vom Campus entfernt im Wald eine Felslandschaft, die perfekt zum Bouldern (klettern auf kleineren Felsen ohne Seil) waren. Wir brachen die Schlösser zur Ausrüstung auf, um nach der Schule klettern zu können, schlüpften durch alle Lücken des Kletterregelbuches, dessen Nachführung zu unserem Glück viel zu langsam war und verbrachten die Stunden, in denen wir eigentlich für einen Mathetest lernen sollten, damit neue Kletterrouten und Probleme an unseren Boulderfelsen zu finden und ihnen Namen zu geben. Fürs Klettern konnte alles andere warten –stundenlang. Ein Teil dieser Klettergruppe zu sein, angesteckt von der weiss UWC-Gott woherkommenden Energie und Begeisterung war eine Erfahrung, die sich tief eingebrannt hat und mir Klettern als eine neue Leidenschaft schenkte, die mich ganz sicher in den nächsten Jahren auf Schritt und Tritt begleiten wird.





Fortsetzung in nächstem Blog